15.06.2014 22:00 Alter: 10 yrs
Kategorie: Archiv, 2014

Online ausverkauft und in der Filiale verramscht? So vermeiden Sie den GAU des Multichannel-Handels.


Ein Artikel der aktuellen Online Retail befasst sich mit dem Problem der getrennten Warenbestände im Online- und Filialgeschäft. Dazu ein Interview mit Jörg Bernhard, das Lösungsansätze aufzeigt.

Getrennte Warenbestände führen zu Umsatz- und Margenverlusten im Online- und Filialgeschäft. Die Integration der Warenbestände ermöglicht eines Tages sogar „same day delivery“ aus der Filiale. Der Stationär-Handel hat Vorteile gegenüber dem reinen Distanzhandel. Aber es gibt auch Herausforderungen.

Getrennte Lagerbestände für den stationären Filialbetrieb und für den Online Shop sind im Einzelhandel die Regel. Die Läger werden im Allgemeinen auch wirklich physisch getrennt gehalten. Es gibt ein Lager für den Online-Direktversand, das häufig sogar von einem externen Dienstleister betrieben wird, der die Einzelkommissionierung auf Endkundenebene beherrscht. Und es gibt daneben die klassische Einzelhandelslogistik für die Filialbelieferung, häufig auch im Streckengeschäft vom Hersteller zur Filiale. So lässt zum Beispiel Fressnapf den Online-Direktversand von Baur Fulfillment erledigen, betreibt aber die Filialbelieferung selbst.

Mit „Nein“ verkaufen müssen ist teuer

Wenn der Bestand im Online-Lager ausverkauft ist, wird der Artikel üblicherweise (zumindest vorübergehend) aus dem Online Shop entfernt, damit man nicht mit „Nein“ verkaufen und die Kunden verärgern muss. So sollte es zumindest sein. Es sei denn, es handelt sich um ein dauerhaftes Standard-Sortiment und man kann mit einer kurzfristigen Nachlieferung durch den Lieferanten rechnen. Das ist aber bei den immer kürzeren Saisonrhythmen im Online-Geschäft immer seltener.

Wenn nun aber in den Filialen noch Bestände liegen und der Online-Bestand hingegen schon ausverkauft ist, hätte man mit den Online-Kunden doch sichere Abnehmer, die man bei getrennten Beständen so aber nicht bedienen kann. Und ob man diese Ware in der Filiale ohne Abschriften abverkauft, ist gerade gegen Saisonende auch nicht mehr sicher. Unangenehm ist es aber auch, wenn das Angebot zuerst im Internet veröffentlicht wird und die Online-Nachfrage dann für die Filialen nichts mehr nachlässt.

Da wäre doch eine Integration der Filial- und Onlinebestände ein wünschenswerter Zustand. Der Handel würde die Nachfrage dort befriedigen, wo sie gerade auftaucht, stationär oder online, und auf diese Weise am Ende noch mehr (zu regulären Preisen) verkaufen.

Der Teufel steckt im Detail

Was da theoretisch so glatt aussieht, wirft allerdings in der Praxis einige Probleme auf, zum Beispiel:

  • Der Filialbestand ist trotzt Scanner-Kassen nie genau bekannt. Was ist mit dem Paar Schuhen, das der Kunde gerade anprobiert und mit dem er noch nicht zur Kasse gegangen ist? Hier kann man mit Pufferbeständen arbeiten.
  • Lassen sich die Filiallogistik und die Einzelkommissionierung auf Endkundenebene wirklich physisch integrieren? In der Einzelkommissionierung müssen größere Gebinde, die sonst geschlossen in die Filialen gehen, aufgerissen werden. Zumindest bedarf es hier einer detaillierten Planung und die Lösungsmöglichkeiten sind sicherlich auch sortimentsabhängig.
  • Integration würde ja auch bedeuten, dass die „Online-Bestände“ auch den Filialen zur Verfügung stehen. Wie sollen in diesem Zusammenhang die Retouren aus dem Online-Geschäft behandelt werden?
  • In jedem Fall bedarf es Anpassungen möglicherweise auch ein Austausch des IT-Warenwirtschaftssystem.


In der Praxis gibt es mehrere Lösungen für diese Aufgaben:

1. Fiktiver gemeinsamer Bestand und Führung des Online Shops als „101te Filiale“ mit Umlagerung von Ware zwischen den Filialen.

2. Fiktiver gemeinsamer Bestand mit Umlagerung von Ware zwischen Online-Lager und Filiallager.

3. Physisch gemeinsamer Bestand in einem Zentrallager mit Auslieferung sowohl an die Filialen als auch an die Endverbraucher. Beispiele für diese gemeinsame Bedienung von Filialen und Online-Shop sind Snipes, Weltbild oder Mediq Direkt Diabetes.

Der reine Distanzhandel hat keine Filialen als Reserve


Der stationäre Einzelhandel mit Online Shop hat einen deutlichen Vorteil gegenüber dem reinen Versand- und Distanzhandel ohne stationäre Filialen.

Der reine Distanzhandel kann weder Überhänge rechtzeitig auf die Filialen verteilen, um sie dort noch zu regulären Preisen abzuverkaufen. Noch kann er aus den Filialen Bestände nachziehen, um die sichere Online-Nachfrage zu bedienen. Beides kann teuer werden. Das Verkaufen mit „Nein“ bedeutet nicht nur entgangene Marge sondern auch Kundenverärgerung und Kundenverlust.

Und es kommt noch ein Aspekt hinzu, der sich für den stationären Einzelhandel zu einem Vorteil gegenüber dem reinen Versand- und Distanzhandel entwickeln kann. Das Thema „same day delivery“ ist zwar noch die Ausnahme und wird von den Kunden noch nicht selbstverständlich erwartet.

Es kann sich aber in einigen Sortimenten zu echten Wettbewerbsvorteil entwickeln. Und dann werden die stationären Einzelhändler mit einem landesweiten Filialnetz die Nase vorn haben.

Denn sie können die Online-Nachfrage mithilfe von Kurierdiensten wie tiramizoo innerhalb einer extrem kurzen Lieferfrist auch dezentral aus den Filialen bedienen – wenn sie denn die Warenbestände der Filialen integriert führen.

Bei den derzeit noch relativ hohen Zustellkosten zwischen 10 und 50 € je Sendung macht das in erster Linie Sinn für hochwertige Produkte, wie sie die tramizoo-Kunden Lodenfrey oder uhrzeit (Luxus-Uhren) anbieten.

Interview zum Thema „gemeinsamer Warenbestand“ mit Jörg Bernhard, Gründer der Bernhard Unternehmensberatung, eine für den Distanzhandel führende Strategie- und Organisationsberatung mit Schwerpunkten auf Supply Chain, Logistik und IT.


Online Retail: Was sehen Sie als das größte Problem in der Warenwirtschaft für stationäre Filialhändler mit angeschlossenem Online-Handel?


Bernhard: Häufig sourcen Filialisten ihr Online-Geschäft aus. Das führt zu getrennten Warenbeständen, die permanent nachdisponiert werden müssen. Daraus resultieren ständige Umlagerungen zwischen Filial- und Online-Lager, die häufig noch weit von einander entfernt liegen. Da wäre es viel besser, ein Zentrallager zu haben, in dem es verschiedene Bereiche für Paletten, Kleinmengen, die Filial-  und die Endkunden-Kommissionierung gibt. Innerhalb des Zentrallagers kann problemlos umgelagert werden.

Online Retail: Aber was ist mit den Beständen, die bereits in der Filiale liegen, für die aber online Bestellungen vorliegen?

Bernhard: Die sollte man noch Möglichkeit auch aus der Filiale direkt an die Kunden versenden, um den „Warentourismus“ zu vermeiden. Voraussetzung ist allerdings ein für beide Vertriebskanäle integriertes IT-Warenwirtschaftssystem und die Möglichkeit, die Ware in der Filiale vernünftig zu verpacken. Letzteres kann bei den teuren Flächen in 1a-Lagen zum Problem werden.


Online Retail: Der Händler soll sich um Einkauf und Verkauf kümmern. Gibt es Dienstleister, die dem stationären Händler diese Probleme abnehmen können.


Bernhard: Zu den führenden Adressen in Deutschland, die sich genau auf diese Problematik des Multichannel-Handels eingestellt haben, gehören z.B. arvato logistics services oder Baur Fulfillment Services. IT-Lösungen auf Navision Dynamics-Basis sind z.B. TSO, Impuls oder SAP. Aber man muss sich das im Einzelfall genau ansehen. Es gibt auch kleinere Anbieter, die vielleicht besser zu mittelständischen Einzelhändlern passen.

Online Retail: Was raten Sie einem Stationär-Händler, der seine ersten Erfahrungen im Online-Handel hinter sich hat und nun merkt, dass er die Integration der Absatzkanäle angehen sollte, weil sonst beide Kanäle leiden?

Bernhard: Es gibt keinen Königsweg! Die Geschäftsprozesse sind sehr individuell auf das Sortiment abzustimmen. So sehen Lösungen für Medienunternehmen ganz anders aus als für den Textilhandel. Während z. B. die einen Retouren kaum kennen, entscheidet bei den anderen die Wiederverwertung der Retouren über den wirtschaftlichen Erfolg. Mein Rat ist es, am Anfang den gesamten Prozess von der Sortimentsgestaltung und Beschaffung über die Logistik (Wird die Ware auch in der Filiale abgeholt?)und die Retouren-Bearbeitung bis zum Debitorenmanagement (Wird auch in der Filiale bezahlt?)mit erfahrenen Spezialisten detailliert festzulegen. Denn die Fehler, die am Ende teuer werden, werden meistens am Anfang begangen.

Jörg Bernhard (Jahrgang 1959) hat Mathematik und Informatik studiert und seine Karriere im Versandhandel als Leiter Organisation beim Schneider Versand/Wedel begonnen. 1991 hat er die Bernhard Unternehmensberatung gegründet, die über 200 Kunden, darunter in großen Restrukturierungsprojekten im Versand- und Onlinehandel u.a. bei Weltbild, Mir Knigi, DocMorris und Schäfer Shop beraten hat.

Quelle: Online Retail 10/2014 Seite 1+2 (Sonderdruck als Download)